Fachthema
Die integralen "Stuttgarter" Holzbrücken im Remstal
Ein Meilenstein für die Renaissance der Holzbrücken
Abb. 1: Die fertige Brücke „Urbacher Mitte“ (Foto: Schaffitzel Holzindustrie)
Dr.-Ing. Karl Kleinhanß mit Beiträgen von Jürgen Härer, Redaktion Holz-Zentralblatt sowie Sabrina Oberländer-Schaffitzel, Schaffitzel Holzindustrie GmbH + Co. KG
Renaissance der integralen Brücken (Quelle: A)
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist bei den Brücken der Bundesfernstraßen eine Wiederauferstehung der integralen Tragwerke ohne Lager, Fugen und Fahrbahnübergänge zu beobachten. Diese Bauweise geriet zuletzt in Vergessenheit, denn die massiven Brücken aus Stahl- und Spannbeton bzw. in Stahl- oder Verbundbauweise wurden regelmäßig mit Dilatationsfugen, Lagern und Fahrbahnübergängen konstruiert. Diese Bauteile haben sich jedoch unter dem zunehmenden Schwerverkehr als wartungsintensiv und kurzlebig erwiesen. (Abb. 1)

Abb. 2: Integrale Brücke vollständig ohne Lager und Dehnfugen (Quelle: A)
Integral ist ideal für Beton und Holz
Bereits vor 15 Jahren wurden als Vorläufer der integralen Brücken in Deutschland 10 Überführungen des Rügenzubringers von der Ostseeautobahn A20 nach Stralsund durch die Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH (DEGES) als integrale Einfeldrahmen in Stahlbeton ausgeführt (Abb. 2). Diese Bauweise hat sich in der Praxis sehr bewährt und wurde daher Vorbild für zahlreiche Überführungen im heutigen Fernstraßenbau, wie u. a. an der A14 und aktuell der A8 auf der Neubaustrecke von Stuttgart nach Ulm, dort mit über 40 Meter weit gespannten Einfeldrahmen aus Stahlverbundträgern.
Drei Pluspunkte für integrale Holzbrücken:
- Durch die Einspannung kann die Schlankheit des Brückenträgers bzw. das Verhältnis aus Spannweite zu Bauhöhe von circa 20 auf 40 vergrößert werden. Bei einer Bauhöhe von einem Meter ist somit eine Spannweite bis 40 Metern zu realisieren und ermöglicht die stützenfreie Überbrückung einer sechsstreifigen Autobahn.
- Mit der integralen Verbindung des Holzträgers und des Ortbetonwiderlagers entsteht ein dauerhaftes, konstruktiv ideal geschütztes Auflager, unempfindlich gegen Durchfeuchtung und LESS (Laub, Erde, Schnee und Splitt) und damit integer im wahrsten Sinne des Wortes.
- Durch zeitparallele Herstellung von Fundamenten vor Ort und des Brückenträgers unter kontrollierten Bedingungen im Holzbaubetrieb wird die Projektdauer bzw. insbesondere die Montagezeit erheblich verkürzt.
Stuttgarter Holzbrücke
Die Entwicklung der Stuttgarter Holzbrücke (Abb. 3) basiert auf einem EFRE-Forschungsprojekt, welches durch die Europäische Union, das Land Baden-Württemberg sowie proHolzBW gefördert wurde. Beteiligte Firmen des Forschungs-projektes waren: Materialprüfungsanstalt Universität Stuttgart (MPA), Cheret Bozic Architekten, Knippers Helbig Advanced Engineering, Ingenieurbüro Miebach und Schaffitzel Holzindustrie. Bereits im Juli 2016 wurde ein erster Prototyp der Stuttgarter Holzbrücke auf dem Gelände der MPA Stuttgart eingeweiht. Erstmals wurde hier in Vollholzbauweise ein integraler, voll eingespannter Widerlagerstoß ausgeführt, d. h. der hölzerne Brückenkörper wird fugenlos an den Stahlbeton angeschlossen.
Seit der Erstellung des Prototyps wird dieser kontinuierlich hinsichtlich seines Dehnungsverhaltens, der Verschiebung bzw. Spaltbildung zwischen Brettschichtholz-Träger und Stahlbeton-Widerlager, der Holzfeuchteverteilung und der Temperatur von der MPA Stuttgart überwacht (Abb. 4). Dabei hat sich exakt die erwartete und erwünschte Ausgleichsfeuchte von 14 % (im Sommer) bis 17 % (im Winter) eingestellt.
Die Remstalbrücken
Basierend auf dem Konzept der „Stuttgarter Holzbrücke“ wurden jetzt die Brücken „Urbacher Mitte“ in Urbach (siehe Abb. 7, 8 und 9) sowie „Birkelspitze“ (Abb. 5) und „Häckermühle“ in Weinstadt geplant und ausgeführt. Diese Standorte am Urbach und entlang der Rems bieten mit den zu überbrückenden Spannweiten von 15 bis 30 Metern günstige Voraussetzungen für diesen Brückentyp, denn monolithische Holzträger aus blockverklebtem Brettschichtholz (BSH) können im Werk komplett vorgefertigt und in voller Länge per LKW auf die Baustelle transportiert werden. Auch zahlreiche Würth-Produkte wurden verbaut: Zur Befestigung der Auflagerknagge wurden rund 800 ASSY® Plus VG-Schrauben sowie zur Befestigung von KVH rund 500 Würth ASSY® 3.0 Teilgewinde V2A-Schrauben verwendet. Weiter wurde Würth EURASOL® zur Abklebung der eingebrachten Feuchtesensoren verarbeitet.
Brückenträger aus BSH
Die einfeldrige integrale Holzbrücke „Urbacher Mitte“ überbrückt den Urbach mit einer Gesamtspannweite von ca. 38,2 Metern einschließlich der beiden Betonsporne zum Widerlager und zählt damit zu den längsten integralen Holzbrücken. Die in Brückenachse gemessene Stützweite des Holzträgers beträgt ca. 30 Meter. Der Querschnitt verjüngt sich nach unten und wird in der Höhe den Beanspruchungen angepasst, die an der Einspannung ins Widerlager und in Feldmitte am größten sind.
Anschlussbewehrung für den integralen Stoß
Bereits im Werk der Schaffitzel Holzindustrie in Schwäbisch Hall wurden vorab 78 Betonrippenstähle mit 2,31 m bzw. 3,01 m Länge in den blockverklebten BSH-Träger mit Epoxidharz EP 32 eingeklebt und verpresst – die Einklebelänge im Holz beträgt 1,20 m (Abb. 6). Die Betonrippenstähle werden mit der Armierung der Widerlager verbunden, indem sie fest einbetoniert werden. Deshalb musste der Brückenkörper auf den Zentimeter genau abgebunden werden, um einen passgenauen Einbau zu garantieren. Zudem wurden die Stirnseiten des Blockträgers mit einer speziellen Hirnholzversiegelung zur dauerhaften Unterbindung des Feuchtetransports über die Hirnholzflächen in den Träger geschützt.

Abb. 7: Brückeneinhub in Urbach (Foto: Schaffitzel Holzindustrie)
Spektakulärer Brückeneinhub in Urbach
Der von Schaffitzel Holzindustrie maßgenau auf die Geometrie der örtlichen Widerlager abgebundene Holzträger wurde vor laufender Kamera und zahlreichen Besuchern aus Urbach im Beisein der Lokalpresse und des SWR erfolgreich eingehoben und passgenau auf den beiden Widerlagern abgesetzt (Abb. 7, 8 und 9). Durch die schlanke und voutenförmig geschwungene, in der Höhe abgetreppte Trägergeometrie wirkt die nur 2 Meter über dem Urbach verlaufende integrale Holzbrücke dennoch gefällig und überhaupt nicht massiv. So fügt sie sich harmonisch in die Flusslandschaft der Rems bzw. des Urbachs ein.
Innovativer Belag aus Textilbeton
Als weitere Innovation werden karbonbewehrte Betonplatten (Textilbeton) auf die bereits im Werk der Schaffitzel Holzindustrie eingebauten Stahlquerträger aufgelegt, hier noch in der sogenannten Segmentbauweise, also ohne Verbund. Für diese Erstanwendung hat der kommunale Baulastträger Weinstadt über ein Gutachten der RWTH Aachen sowie eine fachtechnische Stellungnahme des RP Tübingen die Zustimmung im Einzelfall erwirkt. Dass sich eine Kommune diesem aufwändigen Verfahren zur Erwirkung einer bauaufsichtlichen Genehmigung für Innovationen stellt, ist lobenswert und vorbildlich.
Nach der Montage der architektonisch sowohl funktional als auch optisch überzeugend gestalteten Geländer werden die drei innovativen Remstalbrücken eine Bereicherung für die vielen Besucher der Landesgartenschau 2019 darstellen und auf Dauer die Infrastruktur der drei Gemeinden aufwerten.
Holz mit Beton: ein starkes Gespann
Mit den integralen Holzbrücken wird mit Sicherheit ein Meilenstein auf dem Weg zur Renaissance der Holzbrücken auch über Baden-Württemberg hinaus erreicht, denn das erstmalig mit der „Stuttgarter Holzbrücke“ entwickelte Konzept eröffnet dem Holzbau auch über den Brückenbau hinausgehende Chancen ebenso und gerade im aktuell boomenden Wohnungs- und Industriebau. Durch die integrale Verbindung von Holzträgern mit anschließenden Bauteilen aus Ortbeton über eingeklebte Bewehrung können die Vorzüge dieser beiden Baustoffe ausgeschöpft und ihre Schwächen kompensiert werden. Dabei erweist sich der Naturbaustoff Holz durchaus als gleichwertig für den Ingenieurbau nach den Bewertungskriterien, die durch den Geschäftsführer der Qualitätsgemeinschaft Holzbrückenbau e. V. erstmals beim 6. Würth Brückensymposium am 21. Februar 2019 vorgestellt wurde.
Bewertungskriterien | Betonbrücken | Holzbrücken |
---|---|---|
statische Funktion | Beton kann nur Druck | Holz kann auch Zug |
statische Verstärkung | Beton benötigt Stahlbewehrung | Holz benötigt nur Kleber |
Wirkung von Sauerstoff | Betonstahl kann korrodieren | Holz regeneriert sich |
Wasser und Frost | Beton kann abplatzen | Holz gibt nach |
Chlorid und Tausalz | Beton karbonatisiert | Holz wird konserviert |
Brand von Fahrzeugen | Beton wird zerstört | Holz verkohlt (Schutzschicht) |
Ressourcenverbrauch | Beton braucht Rohstoffe | Holz wächst nach |
CO2-Bilanz | Beton verbraucht CO2 | Holz speichert CO2 |
Visuelle Wirkung | Beton steht für Technik | Holz steht für Natur |
Verhältnis EG zu Nutzlast | Betonsteg 80 t zu 40 t (2,0) | Holzsteg 20 t zu 40 t (0,5) |
Perspektiven für weitgespannte Brücken
Durch die integrale Verbindung der weitgespannten Holzträger mit Widerlagern aus Stahlbeton können bis zu sechsstreifige Fernstraßen des Bundes ohne Mittelstützen überbrückt werden. Dies eröffnet den integralen Holzbrücken vielfältige Chancen auch im Verkehrswegebau, speziell bei Überführungen für Menschen (Fuß- und Radwege), für Tiere (Grünbrücken bzw. Wildwechselquerungen) und auch für Schwerlastfahrzeuge, z. B. für Wirtschaftswege. Dafür werden sicher neuartige konstruktive Verbindungen mit speziell zu entwickelnden Verbindungsmitteln und Einbauteilen gebraucht, mit denen das Lieferprogramm von Würth als Partner der Holzindustrie ergänzt werden sollte –„ein Fall für Würth“!
Gerade in Baden-Württemberg, dem Bundesland mit der kürzlich erklärten Holzbau-Offensive, sollten bei den acht geplanten Grünbrücken über Bundestraßen und Autobahnen die in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg realisierten Bauwerke Vorbild und Ansporn sein. Die Holzindustrie in Baden-Württemberg und die Qualitätsgemeinschaft Holzbrückenbau e. V. (QHB) stehen mit ihren Erfahrungen zur Verfügung, die sie bei den bisher vier realisierten Grünbrücken in Holzbauweise unter Beweis gestellt haben. Die in Abbildung 12 gezeigte Grünbrücke bei Luckenwalde wurde im Jahr 2012 durch die Schaffitzel Holzindustrie erfolgreich montiert – im Übrigen mit nur zwei Wochenenden Sperrzeit für die Bundesstraße B101. Zusammenfassend lässt sich sagen: die Zeit ist reif für moderne, konstruktiv geschützte Brücken in Holz- oder Holz-Verbund-Bauweise.
Quelle: A: Vortrag „Renaissance der integralen Bauweise im Straßenbrückenbau“, Internationale Arbeitstagung Brücken- und Ingenieurbau, April 2010 in Köln, Dipl.-Ing. Winfried Glitsch, DEGES Berlin.
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